21. September 2011, Neue Zürcher Zeitung
Ein Querschläger im
«Schloss der Träume»
Die Welt des Malers und Propheten Karl Wilhelm Diefenbach in einer Ausstellung der Wiener Hermesvilla
Karl Wilhelm Diefenbach beherrschte nicht zuletzt die Kunst der Selbstinszenierung (Bild: pd)
Karl Wilhelm Diefenbach war eine widersprüchliche Persönlichkeit. In Kutte und Sandalen predigte er freie Liebe, Nacktkultur und Vegetarismus – residierte indes mit Vorliebe in herrschaftlichen Häusern. Die Hermesvilla in Wien würdigt das Leben und Werk eines vergessenen Propagandisten der Lebensreform.
Eva Dietrich
Die letzten Tropfen eines Landregens fallen zu Boden, während wir uns durch den Wald des Lainzer Tiergartens dem «Schloss der Träume» nähern, wie Sisi ihre Hermesvilla einmal nannte. In dem Moment, da wir das Tor zum weitläufigen Innenhof durchschreiten, schlagen uns die ersten Sonnenstrahlen mitten ins Gesicht – als meinten sie uns persönlich. Darauf legt sich eine von Unbilden der Zeit gebeugte und wieder zurechtgeschnittene Zypresse auf dem Weg zum Eingang quer. Im ersten Raum der Ausstellung dann zwingt uns Karl Wilhelm Diefenbachs (1851–1913) lebensgross auf Karton aufgezogene Gestalt seinen Blick auf. Wie gerne würde man angesichts dieser Akkumulation von Blickverengungen an eindeutige Zeichen oder bedeutungsvolle Gesten glauben. Aber eben.
Mit zusammengekniffenen Augen und dekorativ nach hinten frisierter Löwenmähne schaut Diefenbach uns herausfordernd an. Der Querschläger par excellence hat seinen Arm fotogen in die herausgestellte Hüfte gestützt und steht allein in der sonst leeren Halle. Einzig sein erstes Kind Helios lehnt sich vertrauensvoll an den Vater, den Blick auf die Weite des Starnberger Sees gerichtet.
«Werdet wie die Kinder»
Da steht er also, ein Kulturrebell und Missionar zukünftiger Generationen. Kinder spielen eine zentrale Rolle in Diefenbachs Biografie – oft malte er sie, und er liess sich auch gerne mit ihnen fotografieren. Er plante «Humanitas-Werkstätten für Religion, Kunst und Wissenschaft», später in Ägypten ein megalomanes Waisenhaus, über das sich als Dach eine Sphinx legte. Auf Capri entstand das Gemälde «Villa imperiale», eine drohend über windgepeitschter See auf einem Hügel thronende Erziehungsanstalt, in der die Jugend autoritär zu besseren Menschen geformt und dann in die Welt entlassen werden sollte, so wie auf seinem Frühwerk «Per aspera ad astra», das den Auftakt und das Ende einer Ausstellung bildet, die mit zahlreichen Fotos und rund dreissig Gemälden Diefenbachs stürmisches Leben und Umfeld beleuchtet.
Der mithilfe seines «Jüngers» Fidus gemalte Schattenfries «Per aspera ad astra» zeigt Diefenbachs Lebenstraum. Aus einem «Humanitas»-Tempel strömt, angeführt von Diefenbachs Familie mit Esel (in Anlehnung an die «Flucht nach Ägypten») ein Festzug mit neckisch nackten Kindern. Auf insgesamt 68 Metern Länge und 34 Tafeln reiten sie auf Löwen, tollen mit Affen und springen akrobatisch über die Wiesen. Der Zug endet auf einem Felsen, wo Diefenbach mit seinen drei Kindern und gefolgt von Fidus auf das verheissene Paradies blickt. Das gemalte Manifest zeigt schwarz auf weiss Diefenbachs Ideal von kindlicher Unverdorbenheit. Er suchte die Einheit von Mensch und Natur und sah sich selbst als Propheten in der Nachfolge Jesu.
Wir stehen solch pathetisch-naiven Führerphantasien heute kritisch gegenüber, weisen sie doch retrospektiv in Richtung Nationalsozialismus. Doch war 1900 eine Zeit grosser Gesten, alternativer Weltentwürfe und prophetischer Selbststilisierung. Das zeigt auch Diefenbachs Modellbiografie eines Bekehrten. Der in der deutschen Kleinstadt Hadamar Geborene erkrankte während seines Studiums an der Akademie der bildenden Künste in München 1873 schwer an Typhus. In der Folge wandte er sich der Naturheilkunde zu und schwor Alkohol, Tabak und Koffein ab. Anscheinend direkt nach seiner Trauung «flüchtete» er allein auf den Hohenpeissenberg, wo er vor der aufgehenden Sonne Gott in sich entdeckte, seine Initiation zum Lebensreformer empfing und geläutert vom «Berg der Erkenntnis» herabstieg. Den Frack mit der wollenen Kutte tauschend, sorgte er fortan Gandhi-like für Aufsehen in Münchens Strassen und eckte mit Vorträgen zu Themen wie die Ehe als «privilegierte Unzucht» an, die wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses bald verboten wurden.
Als die Anfeindungen zunahmen, gründete er seine erste Kommune in einem bei einem aufgelassenen Steinbruch gelegenen Arbeiterhaus, wo er sich ein Atelier im verschwenderischen Gründerzeitstil der Künstlerfürsten des 19. Jahrhunderts einrichtete. Diefenbach liebte es, nackt in der Sonne zu baden. Das führt 1888 zum ersten Nudistenprozess in Deutschland, in dessen Folge der Prophet zu sechs Wochen Haft verurteilt wurde. Solche Skandale konnten dem maroden Österreichischen Kunstverein in Wien nur recht sein. Er lud den skandalumwitterten Maler zu einer Ausstellung ein, die ein Publikumserfolg wurde. Diefenbach selbst führte die Schau in den Ruin, weil der Kunstverein einen Teil seiner Gelder veruntreute.
Die Hermesvilla präsentiert Diefenbach etwas zu sehr als «verschollenen Aussenseiter» und einsamen Vorkämpfer alternativer Lebenshaltungen, anstatt ihn als Teil einer grösseren, vor allem die aufstrebende Mittelschicht betreffenden Bewegung einzuordnen. Damit folgt sie der von Diefenbach so gekonnt betriebenen Selbstinszenierung. Sie sieht ihn weniger als Maler denn als Propheten und gruppiert deshalb seine Gemälde um die bekannten lebensreformerischen und alternativ-religiösen Parolen wie «Zurück zur Natur» oder «In dir ist Gott».
Diefenbach setzte seine Überzeugungen in plakativen Gemälden um, von denen im Verlauf der Jahre oft mehrere Fassungen entstanden. In «Du sollst nicht töten» strebt ein vom Jäger verfolgtes Wild aus finsterem Nichts einem im hellen Nichts erscheinenden patriarchalen Antlitz entgegen. Dieses trägt je nach Fassung mehr oder weniger Diefenbachs Züge. Die göttliche Gestalt schleudert mit pathetisch erhobenen Armen dem ebenfalls durchs Nichts katapultierten Jäger die Worte des fünften Gebotes entgegen. Der Jäger taumelt getroffen zurück – ein urtümlicher Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Finsternis, im leeren Raum. Tiermord führt gemäss vegetarischer Überzeugung zu Menschenmord, und Vegetarismus wurde zum Mittel gegen Krieg stilisiert.
«Friede» zeigt ein golden aufscheinendes Löwenhaupt. Es wacht über ein Kind, das auf einem schwebenden Nest liegt. Gustav Gräser, einer der Gründerfiguren des Monte Verità und kurzzeitiger Bewohner von Diefenbachs Wiener Kommune «Himmelhof», nannte Diefenbachs Glauben, dass naturgemässe Lebensführung ins Paradies führe, «Bäbi-Phantasien». Er störte sich an der autoritären Art des «Meisters», der den Kommunenmitgliedern Keuschheit und das Führen eines öffentlichen Tagebuchs vorschrieb. Gräser zog weiter auf den Monte Verità, wo er ohne Führungsansprüche den Ausstieg aus der Gesellschaft vorlebte. Als lachender Hedonist spielte er gerne mit seinem Namen und nannte sich mit «mucho gusto» Gusto oder Gras, weil er so einzigartig war. Diese Leichtigkeit war Diefenbach fremd, doch gehört Strenge vielleicht zum Prophetentum.
Zwischen Entstehen und Entschwinden
Diefenbach schlugen Erfolg, Skandale und finanzieller Ruin in schneller Folge durchs Leben. Nach dem Konkurs seiner Wiener Kommune 1899 fuhr er über Triest nach Capri, wo er seine letzten Jahre verbrachte. Die dort entstandenen symbolistischen Seelenlandschaften erwecken öfters leises Schaudern. Schwere, opake Massen und aufgewühlte Materie kontrastieren mit lichten Nebeln und Durchblicken. Seine Menschengestalten schweben zwischen unergründlichem Dunkel und Licht, als sei Materie ein kurzer Aggregatzustand, ein Pinselstrich zwischen Entstehen und Entschwinden im All. In «Der Rettung entgegen» sitzt Diefenbach mit seinen zwei jüngeren Kindern, die sich vertrauensvoll an den Vater schmiegen, inmitten eines Sturms in einer Nussschale von Schiff. Sein ältester Sohn Helios hält das Steuer. Eine lichte Vision – während in der Realität das Zusammenleben mit den Kindern immer schwieriger wurde.
Blieb Diefenbachs Traum so unerfüllt wie derjenige der Gymnastik treibenden Sisi im «Schloss der Träume»? Einstige Anhänger wie Fidus, Gräser oder Frantisek Kupka, einer der Begründer der abstrakten Malerei, entwickelten seine Ideen weiter, wie die Ausstellung zeigt. Diefenbachs Kinderdarstellungen fanden in gedruckter Form Verbreitung und legen sich im letzten Raum dekorativ auf Geschirr und Möbel. Mit Diefenbach werden die Widersprüche einer Zeit fokussiert, in der sich ein Heilsglaube an eine einseitig gute Natur und an neue Führerfiguren gegen Industrialisierung und gesellschaftliche Zwänge richtete. Das christliche Erlösungsmodell reichte nicht mehr aus. Die Sehnsucht nach Einklang mit der Natur und kosmischer Auflösung führte zu einem neuen Welt- und Selbstverständnis. In der Kunst äusserte sich diese Sehnsucht in einer zunehmenden Abstraktion.
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